Ran an die Käsespieße! Während anderswo eine vierte Kerze den Endspurt in Sachen Weihnachtszeit einläutete, zog uns Sensei Frank Pelny in Nordhausen unsere Hammelbeine lang. Vier Stunden Bo und drei Stunden Sai waren angesagt.
Das Sai ist neben dem Bo die zweite Hauptwaffe im Tesshinkan Kobudo. Sai sind metallene Schwergewichte, nicht unter 600 Gramm, die paarweise benutzt werden. Wider Erwarten sind Sai keine Stichwaffen, auch wenn sie so aussehen und es durchaus auch Stiche gibt. Aber die Spitzen sind nicht angeschliffen, sondern rund. Eigentlich sind diese Dreizacks echte Multifunktionswerkzeuge, die in der Hand eines Geübten überall weh tun können. Klar, die Spitze kann stechen. Meist trifft sie aber, wenn sie seitlich oder von oben gewirbelt an Kopf oder Körper landet. Der Knauf am unteren Ende des Griffes verstärkt Fauststöße sehr effektiv, denn Sai werden oftmals gedreht und dann mit dem „hinteren“ Ende benutzt. Die seitlichen Gabeln können selber in der Vorwärtsbewegung der Sai Verletzungen hervorrufen. Sie können aber auch zum „Einfangen“ von Schwert oder Stock, wenn nötig auch Arm oder Bein, genutzt werden.
Wird das Sai komplett am dünnen, langen Ende gefasst, kann mit dem schweren Rest effektiv geschlagen werden. Außerdem kann man mit Sai vorzüglich blocken. Und wer einmal versucht hat, jemanden mit Sai zu schlagen oder zu treten, der hat zweifelsohne festgestellt, dass Blöcke sehr schmerzhaft sein können. Nicht zuletzt können Sai auch geworfen werden. In manchen Kata tragen die Ausführenden ein drittes Sai im Obi, das zum Einsatz kommt, wenn eines der Sai geworfen wurde. Tesshinkan-Großmeister Hidemi Tamayose trainiert momentan permanent das Werfen des Sai, übt sich darin in nahezu jeder Übungseinheit, wie Sensei Frank Pelny erzählte.
Das Sai wird übrigens auch im Lung Chuan Fa verwendet. Unser Sensei Witalli Reingard unterrichtet eine Sai-Kata, die ab DAN-Niveau auch in Prüfungen abgefragt wird. Allerdings laufen wir hier „nur“ die Form, kennen weder Partnerübungen noch Anwendungen in Kombination mit Bo oder anderen Waffen. Das ist beim Tesshinkan ganz anders. In dem Okinawa-Stil werden allein sieben Sai-Kata gelehrt, dazu unzählige Anwendungen mit gegnerischen Sai, mit dem Bo und anderen Kobudo-Waffen. Dazu kommt, dass Sai-Kata selber extrem lang sind, 150 Einzelbewegungen sind die Regel, gern auch deutlich mehr.
Doch bevor die Sai in unserem Seminar geschwungen wurden, war wieder Bo angesagt. So langsam wird von uns erwartet, dass wir die ersten Bewegungen „drin“ haben. Natürlich wird pingelig genau darauf geachtet, dass unsere Handgriffe passen, die Füße richtig stehen, die Hüfte rotiert, die Ellbogen nah am Körper sind, die Schultern abgesenkt werden und die Stockführung stimmt. Doch allmählich sollten wir die Shushi No Kun Sho, die erste Bo-Kata im Tesshinkan, auch laufen können. Was soll ich sagen: grandios verkackt!
Bisher konnte ich mich rausmogeln, indem ich immer rechts und links und vor allem vorne geschaut habe, was die anderen machen. Doch auf einmal drehte sich Sensei Pelny um und verlangte, dass wir selber laufen sollten. Schwupp, da war ich auch schon raus. Das passiert mir nicht noch einmal! Ab jetzt werden die Hausaufgaben erledigt …
Nach vier schweißtreibenden Stunden mit minimalen Pausen konnten wir kurz durchschnaufen, um dann mit umso mehr Energie (von Sensei Frank) die Handhabung der metallenen Sai in Angriff zu nehmen. Eigentlich sieht der Umgang mit Sai recht unspektakulär aus, doch merkt man schon nach kurzer Zeit das Gewicht, welches die „Käsespieße“ auf Handgelenke, Unterarme und Schultern bringen.
Während beim Kempo gern im „Chinese Style“ gewirbelt wird, drehen die Sai beim Kobudo maximal um 180 Grad. Typisch für diesen Waffenkampf ist der schnörkellose, direkte Einsatz. Immer maximale Wirkung, immer voll drauf …
Wieder und wieder wiederholten wir die Grundübungen, das Sai-No-Kihon. Und arbeiteten uns dann tatsächlich durch die ganze erste Kata. Die heißt Chitin Shitahaku no Sai und ist mindestens genauso lang wie ihr Name!
Am Ende war die fröhliche Schüler-Schar so im Eimer, dass kaum noch jemand stehen konnte. Jede Gelegenheit zur Pause wurde genutzt. Trotzdem zogen alle mit, keiner nahm sich eine Auszeit außerhalb der Mini-Pausen. Klasse Einstellung! Sensei Frank sah natürlich noch genau so frisch aus wie zu Beginn des Tages …
Gegen 17.30 Uhr krochen wir dann erst unter die Duschen, dann aus der Halle und schließlich ab in die Autos. Und fuhren mit einem glücklich zufriedenen Grinsen nach Hause, denn dieser 4. Advent hat allen Verrückten, die sich einmal im Monat in Nordhausen treffen, so richtig die Lichter angezündet.