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Jahre sind Schall und Rauch

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Ich trainiere jetzt knapp 15 Jahre Kempo. Ich armes Würstchen. Verglichen mit den Jahrzehnten, die die Meister so um mich rum auf dem Buckel haben, ist das ein Hühnerschiss. Oder?

Zeit ist ein merkwürdiges Ding. Eigentlich tickt die Uhr ja immer gleich. In einigen Bereichen in der Kampfkunst läuft sie aber meiner Meinung nach ziemlich schräge. Da ist zum einen die häufige Auffassung, dass es ein Zeitfenster geben muss zwischen der einen und der anderen Prüfung zum nächsthöheren Rang. So gilt etwa bei den DAN-Graden meist eine Wartezeit von 1 Jahr zwischen erstem und zweitem DAN, von 2 Jahren zwischen zweitem und drittem DAN, von 3 Jahren zwischen drittem und viertem und so weiter. Das Ganze wird dann noch von Altersgrenzen garniert, vor denen man sich für höhere Grade gar nicht qualifizieren kann.

Früher war alles besser?

Was für ein Quatsch! Wer beurteilt denn, ob sich ein Anwärter weiterentwickelt hat? Wer stellt fest, ob der Anwärter sich in der „Wartezeit“ ernsthaft und intensiv vorbereitet hat oder nur seine „Wartezeit“ stumpf vor sich hintrainiert hat? Immer in der Erwartung, dass ihn am Ende dieser Verbandsfuzzi-Wartezeit der heilige Blitz treffe und er die Erleuchtung auf dem Pfad zum nächsten Grad erreicht? Oder geht es bei diesen formalen Wartezeiten gar nicht um eine erwünschte Weiterentwicklung, sondern eher um die Erlangung von Fleißsternchen wie in der Kindergartenzeit? Wer will denn beurteilen, ob sich außerhalb einer Prüfungsordnung auch eine tiefere Einsicht in die eigene Kampfkunst, ein besseres Verstehen eingestellt hat? Wird man schlauer, wenn man älter wird?

Während man sich hierzulande feiert ob seiner angeblichen Ernsthaftigkeit auf irgendeinem geistigen Wege, reglementiert durch solche Blockaden, Verbote und Einschränkungen, gibt es in den Herkunftsländern unserer Kampfkünste und Philosophien durchaus 30jährige Meister, die den 5. oder 6. DAN innehaben. Hierzulande undenkbar und mit maximaler Verachtung gesegnet („das ist doch niemals korrekt, das kann ja nicht sein„), werden solche Ausnahmeathleten in Fernost bewundert. Der Gründer und geistige Vater des Shaolin Kempo, Carl Faulhaber, war knapp über 50 und ein verehrter und hochgeschätzter Experte in seiner Kunst, als er viel zu früh verstarb. Ted Verschuur wurde keine 40 Jahre alt und gilt als anerkannte Autorität und Stilgründer des Shaolin Kempo Hsinshi. Cor Brugman war knapp über 30, als er den 6. DAN bekam. Hirokazu Kanazawa, einer der bedeutendsten Shotokan-Lehrer der Gegenwart, war 30, als er 1961 den 5. DAN errang.

Hirokazu Kanazawa (*1931 +2019)
„Paatje“ Carel Faulhaber (*1923 +1974)
Si-Jo Ted Verschuur (*1937 +1981)

Eigentlich kann doch nur mein Lehrer feststellen, ob ich überhaupt eine Weiterentwicklung gemacht habe. Und das ist in meinem Falle Olaf Bock. Und dem ist, tragischerweise, komplett schnuppe, wie lange ich meine Jacke mit diesem oder jenem Gürtel zubinde. Solange die Jacke hält und ich mich anstrenge und mich nicht komplett dusselig anstelle. Diese Einschätzung hat aber nichts mit Zeiten, nichts mit Verbänden und nichts mit irgendwelchen Regularien zu tun. Nicht irgend eine Prüfungsordnung, nicht ich selber entscheide, ob ich eine Prüfung machen kann. Sifu Olaf Bock entscheidet, ob und wann ich dazu in der Lage bin.
Übrigens ein Verständnis, welches sich tatsächlich über Jahrhunderte verfestigt hat und in vielen traditionellen Stilen genau so gelebt wird.

 

Mit dem Alter wird alles besser?

Eine andere Form der zeitlichen Deformation betrifft die Anzahl der Jahre, die man vermeintlich oder tatsächlich in der Halle, auf der Matte, im Dojo verbracht hat. Ich bin aktuell gerade wieder konfrontiert mit solch einer Selbsteinschätzung der eigenen Wichtigkeit aufgrund der jahrzehntelangen Zugehörigkeit zu einem Stil. Diese Jahrzehnte, die in der Vita von vielen wichtigen und hochdekorierten Meistern auftauchen, sind auf den ersten Blick beeindruckend. Liest sich doch gut und hört sich auch imponierend an: „Ich mache seit 40 Jahren Kempo.“
Auch gern genommen: „Ich war schon bei dem und dem und hab mit dem trainiert.“ In meinem Umfeld wird in letzter Zeit dabei gern Cor Brugman als Referenz erwähnt. Gern auch garniert mit Fotos, auf denen gemeinsam mit den besagten Koryphäen beieinander gestanden wird. Wall of Fame und so.

Mein Problem dabei: Das ist mir eigentlich immer alles fürchterlich schnuppe. Denn ich hab Bock, mich auszutauschen, miteinander zu trainieren, voneinander zu lernen. Dabei bin ich gern Schüler. Und wenn ich was von den alten Recken lernen kann, dann ist das für mich ein Fest. Meist bleibt es aber bei wilden Geschichten von damals oder ziemlich hüftsteifen Vorführungen.

Wer hier auf dem Blog mal ein wenig mitgelesen hat, weiß, dass ich selber mit 12 Jahren mit Kampfsport angefangen hab. Also auch schon vor (wichtig wichtig) 46 Jahren. Wäre ich konsequent mit 12 mit Shaolin Kempo angefangen und hätte zeit meiner Karriere so trainiert wie die letzten Jahre, dann hätte ich wahrscheinlich jetzt auch ein wenig mehr Ahnung, DAN-Grade und Erfolge aufzuweisen. Hab ich aber nicht. Meine Lebens- und Lernkurve verlief eben nicht geradlinig, sondern über Judo, Kung Fu und Taekwondo bis hin zum Kempo. Wobei mir all die Vorkenntnisse persönlich wichtig sind und so oder so auch ins Kempo einfließen. Das einzig Bemerkenswerte: Ich bin all die Jahre der Kampfkunst treu geblieben. Immerhin! 😉

Mit Sifu Bock
Mit Maul Mornie
Mit Sensei Frank Pelny
Mit Valerie Dierksen und Kit Acenas

Foto-Sensei

Von mir gibts auch Fotos. Mit Tjebbe Layendecker. Mit Olaf Bock. Mit Winfried Joszko und Oktay Cakir. Mit Peter Mixa und Witalli Reingard. Mit Maul Mornie, Jens Thomsen, Henk Schaap, Valerie Diercksen und Kit Acenas. Toll, was? Wäre Können ein Virus, hätte der kurze Kontakt innerhalb des einen oder anderen Seminars wohl gereicht. Corona-like wäre ich angesteckt worden und wie durch ein Wunder hätte sich das Können der Meister auf mich übertragen. Influenza im besten Sinne … Hat aber leider nicht geklappt. Also nützt das ganze Aufzählen von Meistern nix, um meine eigenen Fähigkeiten zu beschreiben.

Zeit ist keine Maßeinheit, in der die Qualität der eigenen Kampfkunst gemessen werden kann. Fotos und kurze Treffen sind keine Maßeinheit, in der Kampfkunst gemessen werden kann. Selbst DAN-Grade sind keine wirkliche Einheit, denn die sind zeigen eigentlich nur den Rang innerhalb einer Trainingsgemeinschaft. Und da gibt es sehr große Unterschiede. Wirkliches Können kann man eigentlich nur in der Bewegung erkennen, im Verständnis dafür. Auf der Matte oder auch mal daneben, in Gesprächen darüber. Miteinander, nicht über- oder gegeneinander.

Oder?

3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort

  • Wie immer ein schöner und sehr wahrer Artikel. Auch der immer wieder gerne angeführte Cor Brugman, dessen direkter Schüler ich 30 Jahre lang war, hatte mit Anfang 30 seinen 6. Dan und mit 33 seinen 7.Dan, und keiner derer, die bei anderen die Moralkeule schwingen und sich gleichzeitig in Sachen Shaolin Kempo auf ihn berufen, würde das in Frage stellen, weil sie sonst nämlich ihre eigenen erworbenen Graduierung vielleicht infrage stellen müssten. Ich zumindest stelle es nicht in Frage, weil er ein hervorragender Lehrer war und seine Graduierungen nur genau das widergespiegelt haben, völlig egal wie alt er war.
    Ein Grad, egal ob Kyu oder Dan, erreiche ich nicht durch stures, gerade für die anstehende Prüfung Auswendiglernen von Techniken, sondern durch eine Entwicklung, die ich mache (machen sollte). Und nur weil manche der Moralapostel diese Entwicklung nicht/noch nicht gemacht haben, sind dann alle anderen unseriös!? Und die habe ich auch nicht automatisch erreicht, nur weil ich eine vorgegebene Wartezeit eingehalten habe. Aber genau damit wird dann die Seriosität begründet, egal ob ich verstanden habe, was ich tue oder nicht.

    Antworten
  • Carsten Menzel
    13. Juli 2021 14:53

    Lieber Lutz, dem kann ich nur zustimmen!

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  • Igor Vaisman
    16. Juli 2021 0:25

    Super geschrieben, nur leider sehen es viele anders.

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