Was für merkwürdige Zeiten! Ein unsichtbarer Feind ist in der Lage, unseren kompletten Alltag auf den Kopf zu stellen. Distanz, Distanz, Distanz ist angesagt, maskiert und desinfiziert. Unsere Dojo, meist öffentliche Turn- und Sporthallen, sind geschlossen. Auch das Kampfsportleben ist damit quasi lahmgelegt.
Oder? Für mich persönlich stimmt das nicht. Und eigentlich ist das auch für die meisten anderen so nicht richtig. Denn wer Kampfkunst als Leidenschaft und mit Leidenschaft ausübt, der braucht gar keine feste Sporthalle. Der braucht auch keine festen Trainingszeiten. Bis auf die ganz frischen Einsteiger greifen wir auf eine solch umfangreiche Basis an Techniken, Formen und Bewegungen zurück, dass die Zeit des Nicht-Trainings eigentlich eher eine Zeit des Nicht-Organisiert-Trainings ist.
Möglichkeiten, sich kampfbezogen zu bewegen, gibt es in der kleinsten Hütte. Stände kann man vor dem Waschbecken beim Zähneputzen üben, mit ganz langsamen Tritten vorsichtig den Lichtschalter an- oder ausknippsen. Abwehrbewegungen gehen immer. Und bei dem super Frühlingswetter kann man den Schwerpunkt seiner Aktivitäten nach draußen verlagern, gerade hier auf dem Land. Kata kann man auf Rasenflächen, Spielplätzen oder Parkflächen üben. Gerade das Thema Kata eignet sich hervorragend zum Training, denn ein virtueller Gegner kann nicht zur bedrohlichen Virenschleuder werden.
Ich konnte meine Fähigkeiten während der Zwangspause jedenfalls deutlich weiterentwickeln. Und gerade durch den Bruch mit dem „üblichen Trott“ habe ich viel nachgedacht, viel ausprobiert, viel in meine Bewegungen „hineingelauscht“. Dazu habe ich noch eine Videoreihe gestartet (YouTube „kempo.lutz“), um meinen Schülern und anderen Interessierten einen Anhaltspunkt zu geben, wie die Abläufe in den grundlegenden Kata sind. So häufig und intensiv bin ich die Tai Tsuku lange nicht mehr gelaufen. Und mit der Sai-Kata konnte ich das Thema Online-Learning mal selber ausprobieren. Der Umgang mit Bo und Sai ist dadurch deutlich besser geworden. Ich trainiere mittlerweile wieder täglich mit den Waffen.
Was natürlich fehlt, sind die gemeinsamen Abende mit meiner Gruppe. Und die Trainings mit Sensei Olaf und den Rabauken vom Shorin Kempo Ryu. Und die Silat-Gruppe. Dazu gesellt sich das eine oder andere Kilo mehr auf den Hüften, denn die Intensität eines regulären Trainings fehlt ebenfalls (gerade mal gewogen – stimmt zum Glück nicht!) 🙂
Seit wir wieder open air trainieren können, sind wir aber auch in der Gruppe regelmäßig aktiv. Technik und Kata ist angesagt, denn noch ist der direkte Kontakt verboten oder zumindest eingeschränkt. Aber auch dieses „Distanz-Training“ in der Gruppe ist eine tolle Erfahrung, denn so konzentrieren wir uns auf weniger Inhalte und üben sie ausführlicher. Und dass es sowieso eine wertvolle Erfahrung ist, den glatten Hallenboden mit einer unebenen Grasnabe zu tauschen, muss kaum erwähnt werden, oder? Kampfkunst ist nicht als klinisch reiner Hallensport entwickelt worden, sondern fand bis vor wenigen Jahrzehnten überwiegend in offener Umgebung statt. Allein der Unsinn der supertiefen Stände wird durch die Kombination aus Grasnabe, Maulwurfshügel und Steinchen unter den Füßen von ganz allein korrigiert.
Einschränkung ja, Erweiterung der Fähigkeiten aber ebenfalls. Kein Training in der Gruppe bedeutet mehr Training für sich selbst, mehr Konzentration. Kein Training in der Halle bedeutet Training in freier Wildbahn mit allen Vor- und Nachteilen. Und Training allein für sich, ohne Unterricht zu geben, gibt die Ruhe, genauer die eigenen Bewegungen zu studieren. In Sachen Kempo hat mich das kleine, unsichtbare, fiese Virus also nicht zurückgeworfen!
3 Kommentare. Hinterlasse eine Antwort
Hallo Lutz! Danke für diesen schönen Beitrag!!! Ich stimme dir zu 100% zu. Morio Higaonna hat in einem Interview gesagt, dass Karate überall im täglichen Leben stattfindet. Er meinte damit genau das, was du in deinem Beitrag beschreibst. Selbst wenn man eine kurze Pause einlegt, die Augen schließt und dabei tief bis in den Bauch rein atmet und wieder ausatmet, ist das schon Kampfkunst. Ich versuche auch täglich etwas von dem Gelernten in meinen Tagesablauf einzubauen. In dem Sinne freue ich mich bereits auf ein Wiedersehen (Vielleicht lässt sich auch ein gemeinsames Training im Freien einrichten).
Du bist immer willkommen! Oder lässt mich wissen, wo Du steckst … dann geht’s los
Hallo Lutz,
super, wie Du Dich in den Zeiten kreativ betätigst!
Der lässt sich durch nix unterkriegen, toffte!
Liebe Grüße
Joachim