2020 war ein denkwürdiges Jahr. Ein irres, verrücktes Jahr. Auch und vor allem in Sachen Kempo. Nach einem schönen und runden Anfang und ersten Trainings bei Sifu Olaf Bock, einem recht harmonischen Trainingsbetrieb im Budo SV Kalletal, klasse Einheiten im Silat und selber bei bester Gesundheit sah alles noch gut aus. Dann kamen erste Nachrichten über eine neue Infektionskrankheit, zunächst noch ähnlich weit weg wie Ebola oder andere exotische Erreger.
Während ich noch mithalf, zusammen mit meinen Freunden aus Wesel-Büderich das Shaolin Kempo im Nordrheinwestfälischen Karateverband KDNW neu zu ordnen, wir dabei waren, spannende Seminare zu planen und mein Freund und Trainingspartner Andreas sich emsig auf die Prüfung zum längst fälligen 1. DAN vorbereitete, rückte uns das Virus schneller auf die Pelle, als wir es ahnen konnten. Mit dramatischen Folgen: Der 1. Lockdown traf uns hart.
Nicht nur die Prüfung für Andreas wurde natürlich gecancelt, auch das reguläre Training war auf einmal nicht mehr möglich, die Hallen dicht. Keine monatlichen Besuche bei Meister Bock, keine Turniere, keine Seminare. Ich wohne zwar auf dem Land, kriege daher keine Platzangst um mich herum. Wir wohnen so abgelegen, dass auch in normalen Zeiten kaum jemand bei mir auftaucht. Aber umso wichtiger ist es, hier auch mal rauszukommen. Die ersten Wochen war der Weg zur Arbeit die einzige Abwechslung. Und der Blick durch das Schlüsselloch der digitalen Netzwerke.
Lehrmeister YouTube
Immerhin konnten wir zu zweit trainieren, also kam Andreas immer mal wieder vorbei, oder Kim nutzte die Möglichkeit auf ein paar Stunden in der Frühlingssonne. Ich konnte nicht nur meine Sifat verbessern, sondern hatte mir neue Techniken im Umgang mit dem Bo abgeschaut, die ich eifrig üben konnte. Keine Kata, keine komplizierten Bewegungsfolgen mit Anspruch und Hintergrund, die unbedingt die Aufmerksamkeit und Korrektur eines Lehrers benötigen. Aber ergänzende Kenntnisse, bessere Beherrschung etwa des Langstocks – Lehrmeister YouTube – das hätte ich davor nicht für möglich gehalten. Im engen Austausch mit unserem Verein gelang es, der Gemeinde das Zugeständnis abzuringen, für die Erstellung von Lehrvideos in die Halle zu dürfen. Nur zu zweit, aber immerhin. Der Gedanke, einen eigenen YouTube-Channel aufzusetzen, nahm Gestalt an.
Zuchtmeister Kamera
Das Training vor einer Kamera, das Training FÜR eine Kamera, stellte sich als wirklich herausfordernd dar. Schließlich will man nicht ganz bescheuert aussehen, wenn man seine Formen (also die Kata, nicht die eigenen Rundungen!) der Öffentlichkeit präsentiert. Auch wenn man nicht die ganze Zeit den Bauch einziehen kann und die Tritte nicht ganz so dynamisch und hoch ausfallen, wie man (ich) das gern hätte. Ein wenig eitel darf man ja auch sein, oder? 🙂 Die Kamera ersetzt den Spiegel, der in öffentlichen Sporthallen ja leider nicht vorhanden ist.
Zumal es nicht darum geht, die gezeigten Techniken in Blitzgeschwindigkeit zu verhuschen, sondern klar und deutlich auszuführen. Und wenn man seine jeweilige Tai Tsuku oder Sifat erstmal zehnmal gelaufen hat und immer noch nicht zufrieden ist, dann weiß man am Ende des (Dreh-)Tages auch, was man getan hat. Alles möglichst noch aus ein oder zwei unterschiedlichen Perspektiven. Anfangs habe ich mehrere Kameras im Einsatz gehabt. Doch am Ende des Tages musste der Kram ja auch geschnitten werden. Und nachdem ich anfangs ewig rumprobiert habe, wie ich die verschiedenen Farbeinstellungen so harmonisch gestalte, dass nicht alles blöd aussieht, habe ich beschlossen, lieber eine Runde mehr Kata zu laufen als eine Stunde länger am Rechner zu pfuschen.
Meinem Verständnis der Bewegungen hat die Detailarbeit extrem gut getan. Die eine oder andere selbstverständliche Technik stellte sich nämlich als gar nicht so selbstverständlich heraus. Die Bunkai zu einer Kata ist ja immer ein Stück weit Auslegungssache. Doch wenn die Anwendung überhaupt keinen Sinn macht, gerät man schon ins Grübeln. Mittlerweile bin ich in Sachen Solo-Training inklusive Kamerapositionierung schon halbwegs fit, doch technische Feinheiten und Fragen tauchen immer wieder auf. Zum Glück ist Sifu Olaf Bock immer bereit, den ewig fragenden Plagegeist zufrieden zu stellen.
Lehren aus Distanz
Dann erreichte mich die Frage einer Kempoka aus Wesel, ob ich ihr nicht „unsere“ Sai-Kata zeigen könne. Tatsächlich führte das zu einem intensiven Austausch, per Mail und Chat und mit bewegten Bildern im Hin und Her. Und dazu, dass die Dame heute tatsächlich die Sai-Kata beherrscht. Natürlich warten wir darauf, dass wir Feinheiten gemeinsam ausarbeiten können, doch die Vermittlung von Grundlagen und der Ablauf der Form sind tatsächlich nur über die dünne Datenleitung von Ostwestfalen an den Niederrhein möglich geworden.
Der Unterschied zu einer reinen YouTube-Studie war der gegenseitige Austausch. So konnten wir die Inhalte portionsweise erläutern, ich konnte Anmerkungen und Tipps mitteilen. Eine ermutigende Erfahrung, die sich im Laufe des Jahres noch als sehr wertvoll erweisen sollte.
Es geht wieder los
Der Frühling wurde warm, und erste harte Beschränkungen wurden aufgehoben. Training auch in Gruppen wurde wieder erlaubt, allerdings blieben die Hallen noch zu. Also nutzten wir das gute Wetter und die hervorragenden Bedingungen vor dem Gemeindehaus des kleinen Dörfchens Kalldorf und trainierten dort. Endlich wieder ein Miteinander, wenn auch mit Abstand. Meine Trainingsgruppe zog mit und nutzte die Möglichkeit, den kurzgemähten Rasen mit Schrittfolgen, Tritten, Schlägen und sogar Bodenarbeit zu verzieren. Und wofür haben die asiatischen Vorfahren schließlich die Kata erfunden? Kontaktloses Unterrichten! Also hatten wir genau die richtigen Inhalte, ob mit Waffe oder Hand und Fuß, um in Schwung zu kommen und Details zu verbessern. Bis zu den Sommerferien hielt der Sonnenschein.
Mittlerweile waren die Tai Tsuku im Video festgehalten, geschnitten und online zu sehen. Die Resonanz versprach nicht unbedingt eine Karriere als YouTuber, war aber völlig okay. Lehrvideos der Nischen-Kampfkunst Shaolin Kempo sind in Sachen Klickzahlen nicht unbedingt der große Renner. Dafür sind sie aber auch nicht gedacht, sondern eher als eine Art digitales Gedächtnis und Möglichkeit der Aktiven, mal eben schnell nachzuschauen, wie denn der Ablauf noch mal war.
Unbeschwerte Sommerferien?
Andreas und ich trainierten auch in den Ferien weiter. Denn es zeichnete sich ja schon ab, dass der Herbst nicht so unbeschwert bleiben würde, wie es der Frühling eigentlich versprach. Also hielten wir auch die drei Bo-Kata auf Video fest, übten hart und intensiv. Die Prüfung von Andreas war mittlerweile auf Anfang Dezember gerutscht. Wir konnten zu Sifu Olaf Bock, nutzten die Gelegenheit zur Feinarbeit und dem Austausch mit den Kempo-Freunden. Auch ein Seminar in Wesel-Büderich bei den Shaolin-Mönchen stand auf dem Programm. Nach wie vor war die Frage ungeklärt, wie es mit Shaolin Kempo im Deutschen Karate Verband weitergeht.
Nach den Sommerferien begann auch das Training in der Halle wieder, zunächst fast wie gewohnt. Allerdings mit kleinerer Gruppe. Lockdown sind Gift für Sportvereine, sie kosten einfach Aufmerksamkeit, Regelmäßigkeit und damit Mitglieder. Kontakt war nach wie vor nicht empfohlen, allerdings waren die Infektionszahlen noch sehr gering. Was zu einigen Diskussionen über die Sinnhaftigkeit der Corona-Maßnahmen führte. Doch Andreas und ich blieben weitgehend konsequent. Wir konzentrierten uns weiter auf die Formen, übten aber mit festen Partnern auch wieder Techniken und Kumite. Spätsommer, Herbstferien – die Zahlen stiegen wieder. Würde es ein Weiter-so nach den Ferien geben? Wie sollten wir dem Mitgliederschwund begegnen? Machen Einsteigerkurse Sinn, wenn nicht klar ist, ob sie überhaupt durchführbar sind?
Digitale Gürtelprüfung
Leider bestätigten sich die Vorahnungen. Kurz nach Ende der Herbstferien wurden die Hallen wieder geschlossen. Jetzt kippten auch die letzten noch verbliebenen Termine, so auch die DAN-Prüfung für Andreas. Eine frustrierende Erfahrung. Denn draußen wurde es nicht nur deutlich eher duster, sondern auch schnell kühler. Kein Wetter, um knackige Outdoor-Trainings anzubieten.
Also Kopf in den Sand? Nö. Mittlerweile war ich ein versierter HomeOffice-Bewältiger. Auch mein beruflicher Alltag hatte sich in die heimischen vier Wände verlegt. Daher waren Videokonferenzen gelebter Alltag. Und rund um uns herum schossen die ersten Video-Unterrichtseinheiten auch im Kampfsport aus dem Boden. Getrieben natürlich von den professionellen Sportschulen, deren Existenz von ihren Mitgliederbeiträgen abhängt. Das mussten wir doch auch hinbekommen!
Nach einigen Anlaufschwierigkeiten in Sachen Technik und langsamem Internet findet mittlerweile einmal pro Woche ein Zoom-Training statt. Sessel beiseite, Teppich eingerollt und Handy gezückt und vorgemacht. Natürlich ersetzt das kein echtes Training. Aber die Aktiven verlieren den Kontakt zu uns Trainern nicht. Und bleiben im Kopf beim Kempo dabei, denn Kampfkunst ist neben der körperlichen Fitness auch eine Sache der Einstellung. Und wer lernen will, der kann das durchaus auch online. Daher bin ich besonders stolz, dass wir sogar eine digitale Gürtelprüfung auf die Beine gestellt haben. Keine Alibi-Klamotte, sondern eine echte Prüfung. Gespeist aus den Erfahrungen des Frühjahrs und Sommers, angereichert mit Zoom und Chat.
Ausblick 2021
Dran bleiben ist die Devise. Wie sich das sportliche Jahr 2021 entwickeln wird, ist noch nicht abzusehen. Dank unserer Gemeindeverwaltung können wir weitere Videos produzieren, dafür eine Ecke der Sporthalle nutzen. Zunächst geht es digital weiter. Wie wir als Verein aus dem neuen Lockdown kommen, weiß ich persönlich nicht. Was ich weiß, ist, dass mein Kempo durch die Zwangspause aber nicht schlechter geworden ist. Ein wenig ähnelt die Situation den Erzählungen alter Kampfkunstmeister, die sich zum Studium jahrelang in der Natur abseits aller Menschen herumgetrieben haben. Der einsame Berg ist dazu nicht nötig, ein kleiner Virus reicht schon.
Andreas wird seinen 1. DAN im Mai machen, so der Plan. Wenn die Hallen wieder offen sind, werden wir mit neuen Angeboten wieder durchstarten. Mittlerweile haben wir mit Joachim Hölscher endlich einen offiziellen Stilrichtungsvertreter im KDNW, planen Seminare auch im Kalletal. Ein verstärkter Austausch mit den Bad Bentheimer Kempoka um Thomas Kuclo ist fest vorgesehen. Und auch ist Ostwestfalen wird die Kempo-Szene sicherlich wieder mächtig durchstarten.
Ich bin selber gespannt, was 2021 bringen wird. Keine Zeit für Winterschlaf oder Covid-Starre! Also bleibt gesund und fit. Bis bald hier oder in der Halle!